Oberton singen
als Weg der Stimme
ist eine Möglichkeit,
sich kreativ-künstlerisch
auszudrücken
und dabei
in
intensivem Kontakt
und Auseinandersetzung mit sich selbst
zu bleiben. Oberton singen -
als
Weg
der Stimme
ist eine Möglichkeit, die
innere Mitte
des Seins zu finden und dort zu verweilen,
im purem
Sein.



Neun Übungen zum Obertonsingen

I. Summen

Wir beginnen, zu summen. Leicht schwebend liegen die Lippen übereinander. Die Mundhöhle ist mit Klang ausgefüllt, der Klang selbst strömt durch die Nase aus. Das Kinn ist in Richtung Brustbein geneigt. Nun beginnen wir mit leichten Kaubewegungen. Dabei hilft die Zunge, die sich durch den Mundraum bewegt, mal den harten Gaumen berührt, sich dann wieder nach vorne schiebt oder mit ihrer ganzen Fläche am Gaumen entlang wandert. Sie verändert den Druck und die Auflagefläche am Gaumen und somit unseren Mundraum, der den Resonanzkörper für das Instrument, welches wir selber sind, darstellt. Wir ahnen erste Obertonspuren, sog. implizite Obertöne. Dabei fühlen wir unsere Resonanzräume im Kopf und lassen die Vibrationen über die Wirbelsäule bis in die Fußsohlen wandern. So werden wir allmählich zum Raum für Schwingung, Pulsation und Lebendigkeit.

II. Summen und Körperschall

Mit den Zeigefingern verschließen wir nun unsere beiden Ohren und beginnen wieder, zu summen. Unsere Stimme hören wir jetzt nur über die Knochenbahnen und damit über den Körperschall. Während wir summen, tasten wir mit der Zunge den Gaumen ab und beginnen, den Klang kauend im Mundraum hin- und herzuschieben. Helle, sich verändernde Klangspektren stellen sich ein.

III. Das »nnhnn«

Beim "nnhnn" berührt die Zungenspitze den vorderen Teil des Gaumens bis an die Schneidezähne. Der Mund ist dabei leicht geöffnet, während der Klang selbst rein nasal ist. Das kann man gut überprüfen, wenn man sich dabei einmal die Nase zuhält. Wir lassen das "nnhnn" weiter durch die Nase strömen und bringen den Sitz des Klanges im Mundraum möglichst weit nach vorne. Die Schädeldecke beginnt, zu vibrieren und die Berührung des Nasenbeins mit den Fingern hilft, den Sitz des Klanges noch weiter nach vorne zu bringen. Wieder beginnen wir, die Zunge am harten Gaumen entlang zu bewegen und dabei ihren Druck und die Auflagefläche am Gaumen zu variieren. Dabei stellen sich hohe und sehr feine Obertöne ein.

 

»Horchen ist eine willkürliche, aktive Handlung, die den Menschen für alles öffnet, für den anderen ebenso wie für sich selbst. Es bietet ihm außerdem die Möglichkeit, weit darüber hinaus zu gelangen und zu einer über alle Grenzen ausgeweiteten Verbindung mit einem Ganzen zu kommen, in dem sich jeder Mensch als lebendiger Teil des Gesamten begreifen kann.

Horchen, das heißt erfahren, dass man eines dieser Teilchen ist, aber auch und vor allem, dass man als horchendes Teilchen der übrigen horchenden Welt zugehört.

Horchen ist eine Bekundung der fortwährenden Anteilnahme, die der Mensch noch der geringsten Einzelheit der Schöpfung entgegenbringt.
Und auf dieses Leben richtet sich das Horchen«.

(Alfred A. Tomatis)

 

IV. Das »ng«

Beim "ng" schließen wir den Rachen, während der Mund selbst geöffnet ist. Das "ng" finden wir als Abschlusslaut in Worten wie "Klang" oder "Gong". Zunächst scheint es uns sehr ungewohnt, ein "ng" singend länger auszuhalten. Wenn dabei ein Vokal zu hören ist, haben wir den Rachen nicht geschlossen und der Ton strömt aus dem Mundraum. Ist der Rachen dagegen ganz geschlossen, strömt der Klang aus der Nase. Wenn wir uns die Nase dabei zuhalten, bricht der Klang ab. Nun bewegen wir die Lippen bei geschlossenem Rachen und öffnen sie mal mehr, mal weniger - der Mund öffnet sich mal breiter, mal spitzer. Dabei können wir hören, wie sehr weiche und feine Obertöne entstehen, als würden sie vor unseren Lippen schweben. In einem Dur-Klang verändern sich die Obertöne und steigen je nach Mundstellung auf oder ab.

V. Das »ngo«

Jetzt öffnen und schließen wir den Rachen impulsartig immer wieder, so dass ein "ngongongongongo...." entsteht. So als würden wir das Wort "Gong" immer wieder rasch hintereinander auf einem Grundton singen. Wir stellen uns vor, eine kleine Klangschale im Mund zu haben, die wir mit einem kleinen unsichtbaren Klöpel immer wieder anschlagen. Das "o" soll wie das "o" in "Sonne" oder "Wort" erklingen. Weiter geht es, indem wir die Vokale mit jedem neuen Impuls verändern, etwa "gongungangingö". Die unterschiedlichen Helligkeitsstufen der Vokale bringen verschiedene Obertöne mit. Wie bei den Übungen zuvor und auch für die nachfolgenden Übungen gilt, deutlich zu artikulieren, die Wege behutsam und langsam zu gehen, einen Ton zu wählen, der einem von der Tonhöhe angenehm ist, etwa die Höhe meiner Sprechstimme und das Singen als einen Transformationsvorgang von Atem in Klang zu betrachten, d.h., sich atemtechnisch nicht unter Druck zu setzen, sondern den Atem ganz gelöst ausströmen zu lassen.

VI. Das »noijöou«

Wie bei »neu« oder engl. "joy". Bis zum "i" steigen die Obertöne hell auf, beim "j" beginnt der Abstieg der Obertöne. Dann führen wir den Klang ganz allmählich ins "u". Diese Übung bringt die so ersehnten flötenähnlichen Obertöne hervor. Die Lippen bewegen sich bei der gesamten Vokalfolge möglichst überhaupt nicht, stattdessen kommt jetzt die Zunge ganz aktiv ins Spiel. Sie schwebt mit ihrer Spitze beim "i" ganz weit vorn im Mund zwischen den oberen und unteren Schneidezähnen und zieht sich dann zur Verdunklung der Vokale ganz allmählich nach unten und hinten ins Mundinnere zurück. Hat man dies geübt, so können die Lippen den Klang noch unterstützen, indem sie sich immer weiter spitzen, je dunkler die Klangfarbe wird.

»Was wir in unserer Alltagssprache Musik nennen, ist nur ein miniaturhafter Ausschnitt aus der Musik und der Harmonie des Universums, die hinter allem wirkt und die Quelle und Ursprung der Natur ist. Was uns hinzieht zur Musik, ist die Tatsache, dass unser Wesen Musik ist. Unser Geist, unser Körper und die Natur, in der wir leben und die uns gemacht hat, all das, was über und unter und um uns herum ist: all dies ist Musik. Jeder Mensch ist Musik, Ewige Musik, Tag und Nacht erklingend.« (Hazrat Inayat Khan)

VII. Das »oh«

Mit der Haltung des erfreuten Staunens strömt ein "oh" aus unserem Mund, das die Kuppel unseres Gaumens mit seinen Schwingungen leicht massiert. Die Lippen sind rund geformt, die Zunge schwebt frei in der Mundhöhle. Der Klang ist ganz zurückgenommen, so als würde man ihn gar nicht selbst singen. Vielmehr scheint der Klang in uns hineinzufließen und uns zu singen. Beginnt die Zunge, sich in unserem Mundraum hin- und herzubewegen, ergeben sich feine Obertonlinien.

VIII. Das »MeYou«

Im englischen "Me" steigen die Obertöne auf und beim "You" gleiten sie wie auf einem Regenbogen allmählich herab. Beim "Me" hilft ein kleines Lächeln dem Klang, beim Weg des "You" wird der Mund immer spitzer und runder. Wir stellen uns vor, dass wir den Klang aus dem Mundraum nach vorne bis zur vordersten Stelle des sich spitzenden Mundes herausschieben. Wenn wir das "u" von "You" erreicht haben, ist der Mund zu einer Schnute geformt. Im Verlauf dieses Klanges neigen wir das Kinn allmählich in Richtung Brustbein. Das entspannt die Nackenwirbelsäule, füllt sie auf angenehme Weise mit Schwingung und entlastet den Stimmapparat.

IX. »...noijöhongangungaiiiööoohm ...«

Wir variieren jetzt frei und kombinieren verschiedene Vokalverbindungen und Techniken. Mir tut es gut, beim Singen der Obertöne folgende Sätze zu beherzigen: Wähle eine Dir angenehme Tonhöhe. Meist ist die Tonhöhe unserer Sprechstimme gut geeignet. Hilfreich ist es, vom Sprechen in eine Art Singsang und dann in das Tönen hineinzufinden. Der Atem strömt leicht aus dem Mund und transformiert sich zu Klang. Jeder Druck nimmt Klangfülle weg. Beim Singen denken wir an einen großen und weiten Raum in uns selbst. Weniger wir selbst produzieren etwas, vielmehr scheint der Raum in uns zu singen, in uns hineinzusingen. Obertöne lieben langsame, ineinander verschmelzende Übergänge, die mit Achtsamkeit begleitet werden. Wichtig ist, nicht bei einem Vokal anzukommen, sondern auf dem Klangweg der Wandlung zu sein. Geschlossene Augen erhöhen unsere Resonanzfähigkeit. Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen. Reicht unser Atem für unser Leben, so reicht er auch für das Singen. Da wir keinen vorgegebenen Text, keine Melodien und keinen Rhythmus haben, die unseren Atem strukturieren wie bei unserem herkömmlichen Gesang, müssen wir dies aus uns selbst heraus organisieren. Dies führt bei manchen Anfängerinnen und Anfängern dazu, dass sie meinen, besonders kurzatmig zu sein. Dem können wir begegnen, wenn wir nicht bis zum letzten Atemrest singen, sondern noch Atemreserven in uns spüren. Das Einatmen ist ein mehr erstauntes Hereinlassen des Atems aus dem Unterbauch, wobei die Schultern entspannt bleiben. Und wenn jetzt noch Raum bleibt für Genuß und Freude daran, dass wir schwingen, dann können wir durch diesen Klang zu unserer inneren Mitte finden.